Die Geschichte von den drei Maurern
Ein Mann kommt an eine Baustelle, auf der drei Maurer sehr fleißig arbeiten. Äußerlich ist zwischen ihnen kein Unterschied zu erkennen. Er geht zum ersten und fragt: „Was tun Sie da?“ Dieser schaut ihn verdutzt an und sagt: „Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt.“ Er geht zum zweiten, fragt ihn dasselbe. Dieser schaut ihn mit glänzenden Augen sichtbar stolz an und sagt: „Ich bin der beste Maurer im ganzen Land.“ Dann geht er zum dritten und stellt ihm dieselbe Frage. Dieser denkt einen kurzen Moment nach und sagt dann: „Ich helfe hier mit, eine Kathedrale zu bauen.“ Wer von den Dreien leistet wohl den größten Beitrag zum Ganzen?
Sich bemühen, das Ganze zu sehen
Ein wertvoller Mitarbeiter für ein Unternehmen ist jemand nicht deshalb, weil er Rang, Befugnisse und Vollmachten hat. Es ist jemand, der das Ganze sieht. Und der seine Aufgabe – gleichgültig von welcher Position und Spezialisierung aus – darin sieht, einen Beitrag zum Ganzen zu leisten. Ein Mitarbeiter also, der nicht nur Positionsinhaber ist, sondern auch an der Effektivität und dem Ziel interessiert ist. Jemand, der die entstehende „Kathedrale“ sieht.
Es sind die Positionen, die die Hierarchie in einer Organisation begründen. Wirksame Menschen verstehen ihre Aufgabe nicht von ihrer Position her, sondern von dem, was sie mit ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen von ihrer Position aus beitragen können – egal wo sie in der Hierarchie stehen.
Von wem will man lernen?
Der sehr viel wichtigere Unterschied zwischen bloßen Positionsinhabern und an Effektivität interessierten Menschen ist: Es gibt solche, die tatsächlich in erster Linie einen Beitrag erbringen wollen. Sie sind es, von denen man lernen kann und soll.
Das braucht nicht zu bedeuten, dass sie ihre eigenen Interessen, auch ihr Einkommen und ihre Machtposition, nicht ebenfalls im Auge behalten. Wenn beides erreicht werden kann, umso besser. Wesentlich ist, dass gute Mitarbeiter wirklich etwas bewegen.
In dem einleitend verwendeten Gleichnis ist der dritte Maurer somit derjenige, der das Gesamtunternehmen „Kathedrale“ vorwärts bringen will. Der erste Maurer stellt kein Problem dar. Es gibt viele Menschen dieses „Typus“, es wird sie immer geben, und wir werden sie auch immer brauchen. Es sind Menschen, die ihr Leben nach dem Motto führen: Für guten Lohn leiste ich gute Arbeit, für mehr Geld etwas mehr und für weniger Geld etwas weniger.
Spezialist oder Generalist?
Ein großes Problem ist der zweite Maurer. Er ist das Paradebeispiel des Spezialisten. Ein Spezialist ist nicht nur ein Mensch mit besonderen Kenntnissen oder einer besonderen Ausbildung. Sondern – und darin liegt das Problem – häufig mit einem darauf gestützten und daraus resultierenden Selbstverständnis und Weltbild. Er ist brennend und leidenschaftlich an allem interessiert, was in seinem Fach passiert – und das ist gut, es ist Berufsethos. Alles andere aber interessiert ihn selten – und das ist Gleichgültigkeit. Er ist stolz auf seine Expertise – mit Recht. Aber ebenso stolz ist er darauf, von allem anderen nichts zu verstehen – und das ist Arroganz.
In diesem Sinne falsch verstandenes Spezialistentum ist eine der wesentlichen Ursachen für die so oft beklagten Probleme der Kommunikation und des Realitätsverlustes in vielen Organisationen. Spezialisten kennen ihre Realität, aber die Realität der Organisation interessiert sie nicht.
Gebraucht wird aber vielmehr der Spezialist, der sich ins Ganze integriert. Der „Nur-Spezialist“ ist unbrauchbar, ja er ist gefährlich. Jener Spezialist hingegen, der seinen Beitrag zum Ganzen zu leisten in der Lage ist und seinen Blick für das Gesamtziel offen hält, ist die vielleicht wichtigste Ressource einer modernen Gesellschaft.
Die Einstellung zum Ganzen
Um noch einmal das Gleichnis von den drei Maurern zu nutzen: Der dritte Maurer ist als Maurer genauso spezialisiert wie der zweite Maurer. Sie unterscheiden sich nicht durch ihre Kompetenz als Maurer oder ihren Spezialisierungsgrad. Sie unterscheiden sich – und das eben fundamental – durch ihre Einstellung zum Ganzen, durch das, worauf sie schauen, was sie wahrnehmen und als relevant ansehen. Sie unterscheiden sich in der jeweils sehr unterschiedlichen Regulierung ihres Verhaltens durch jeweils völlig verschiedene Grundsätze und Haltungen.
Ganzheitliches Denken und die Konsequenzen
Der Grundsatz der Beitragsorientierung ist der eigentliche Kern des ganzheitlichen Denkens. Aber was ist das, ganzheitliches Denken?
Kann man von einem Menschen verlangen, dass er ganzheitlich denkt? Diese Forderung ist unerfüllbar. Erfüllbar hingegen ist eine andere Forderung: nämlich an die Ganzheit zu denken. Und diese Betrachtungsweise kann man trainieren.
Am besten lässt sich das vermutlich an guten Orchesterdirigenten beobachten. Jedes Orchestermitglied ist ein hervorragender Musiker in Bezug auf sein Instrument, und als solcher ein hochgradiger Spezialist. Er bleibt es, ein Leben lang. Der Posaunist kann einer Trompete keinen brauchbaren Ton entlocken und selbst wenn er es nach langem Üben endlich könnte, wäre er als Posaunist verdorben und außerdem ein schlechter Trompeter.
Für einen Dirigenten stellt das aber überhaupt kein Problem dar. Er braucht genau diese Spezialisten, und er wird daher nie von einem Geiger verlangen, dass er auch noch Trompete spiele. Die großen Dirigenten geben sich unendliche Mühe, den Musikern das Musikstück – die Sinfonie – als Ganzes verständlich zu machen, und sie verlangen von jedem Instrumentalisten, dass er sich im Hinblick auf die Sinfonie ins Orchester integriert. Selbst ein Solo ist Teil des Ganzen und für sich allein bedeutungslos. Integration gelingt nur über die gemeinsame Aufgabe.
Der persönliche Beitrag motiviert
Zu einem größeren Ganzen beizutragen, bewirkt auch jene Motivation, die man in einer Organisation benötigt. Eine Motivation nämlich, die unabhängig ist von irgendwelchen Anreizen oder motivierenden Verhaltensweisen durch Vorgesetzte. Die Kenntnis des Ganzen, das Bewusstsein, etwas Wichtiges zu seiner Entstehung, Erhaltung und zu seinem Erfolg beizutragen, ist vom Wechselspiel der täglichen Motivationskünste weitgehend unabhängig. Auf dieser Basis entsteht eine viel stabilere und größere Motivation, als sie von den meisten anderen so genannten Motivatoren herbeigeführt werden kann.
Wem nützt das, was ich hier tue?
Menschen, die in diesem Sinne wirksam sein wollen, lassen ihren Blick gelegentlich von den Akten weg zum Fenster hinaus schweifen und fragen sich: Was bedeutet mein Spezialgebiet für diese Organisation und für andere? Wem nützt das, was ich hier tue? Und wie muss ich es daher tun, damit es nützt? Sie sind sich dessen bewusst, dass Nutzen nie an einem Schreibtisch entstehen kann, sondern immer nur außerhalb der Organisation, letztlich am Markt und bei den Empfängern einer Dienstleistung. Beitragsorientierung ist die Grundlage jeder Kundenorientierung, sie ist die Voraussetzung für die Entstehung von Kundennutzen und damit auch die Grundbedingung für professionelles Marketing. Das sind die wesentlichen Elemente unternehmerischen Denkens.