Eigentlich verrückt
Noch nie in unserer Geschichte haben wir die Möglichkeit gehabt, so gut zu sein wie jetzt. Wissen und gute Bildungsmöglichkeiten stehen vielen Menschen zur Verfügung und sie haben eine sehr gute Grundversorgung. Und trotzdem sind sie unzufrieden, gestresst und empfinden alles als zu viel – arbeiten, einkaufen, den Haushalt bewältigen, Kinder versorgen und erziehen, Sport, Freunde haben und treffen. Es fehlen oftmals Freude, Gelassenheit und Leichtigkeit.
Diese Unruhe und Genervtheit überträgt sich im Beruf von Führungskräften auf ihre Mitarbeitenden, in Beziehungen von einem Partner auf den anderen sowie von Eltern auf Kinder. Weil die einen überdreht, genervt, gereizt, überfordert sind, sind die andern es auch. Eine negative Spirale, die ins Chaos führt.
Als Auslöser dafür werden meist gesellschaftliche Rahmenbedingungen genannt. Unser berufliches und privates Umfeld verlangen zu viel von uns. Wir müssen auf vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Wir sind ständig erreichbar und es gibt keine Ruhezeiten mehr. Wir hetzen unter ständigem Zeitdruck durchs Leben.
Doch was ist es, das uns unsere Zeit und Energie raubt?
Bürokratie verhindert Wirksamkeit
Oftmals rauben uns bürokratische Abläufe, Vorgänge und Korrespondenzen die Energie, deren Sinn wir nicht verstehen. Dieser Mechanismus begegnet uns überall in der Gesellschaft – das Ziel scheint zu sein, Unterlagen zusammenzutragen, abzulegen und abzuheften. Doch wozu? Der Fokus ist oft völlig falsch. Da das Wesentliche nicht gesehen wird, kommt am Ende auch kein brauchbares Resultat heraus.
In unserem Entscheidungsrahmen können wir uns Entlastung verschaffen, indem wir die Prozesse und Vorgänge abschaffen, bei denen wir auf die Frage „Wozu“ keine Antwort haben und es keinen Mehrwert gibt. Und davon gibt es einige.
Selbstdarstellung und Image
Das Thema, das heute Menschen und Unternehmen sowohl inhaltlich als auch zeitlich in hohem Maße beschäftigt, heißt: Image. Es geht um eine möglichst perfekte Selbstdarstellung und Außenwirkung. Durch das Auftreten im Internet, vor allem in sozialen Netzwerken, ist die Oberfläche, die ein Mensch seiner Umwelt heute zeigt, sehr viel größer als früher. Wie viel Zeit verbringen Menschen mit dem Erstellen von ansprechenden Profilfotos und dem Darstellen eigener Überzeugungen. Imagepflege bedeutet, die eigene Wirkung allzeit und überall bewusst im Blick zu haben und Handlungen diesbezüglich zu gestalten und abzuwägen.
Jedem Menschen steht nur ein bestimmtes Kontingent an Zeit und Energie zur Verfügung. Wenn er dies für seine Selbstdarstellung „verbrät“, dann bleibt nicht mehr viel übrig für das Wesentliche. Doch wir müssen die Plattformen zur Selbstdarstellung nicht nutzen. Wir können uns auch auf einen kleineren Rahmen fokussieren und uns fragen: Was ist wirklich wichtig und gut für mich? Für meine Familie? Für die Aufgaben, die mir anvertraut werden? Für das Unternehmen, in dem ich arbeite? Auf dieser Basis können wir zielgerichtet und verantwortungsvoll handeln.
Angebote und Möglichkeiten überall
Ständige Newsletter, Angebote und Rabatt-Aktionen zwingen uns Tag für Tag, uns mit Dingen zu beschäftigen, die uns eigentlich gar nicht interessieren, und Entscheidungen zu treffen. Überall werden uns Bedürfnisse suggeriert. Da wird Kaufen fast schon zum Reflex. Eigentlich haben wir alles, was wir brauchen und könnten zufrieden sein. Noch vor wenigen Generationen herrschten viel mehr Zwänge. Natur und Tradition bestimmten das Leben. Im Winter wurden die Kartoffeln aus dem Keller geholt, da gab es nicht die Möglichkeit, sich im Supermarkt zwischen diversen Sorten zu entscheiden. Als Sohn eines Tischlers hat man vermutlich eine Tischlerlehre gemacht und stand nicht vor dem unüberschaubaren Angebot von Ausbildungsmöglichkeiten. Arbeiten hieß: Machen. Heute bedeutet Arbeiten für viele Menschen: Entscheiden. Und auch die Freizeit erfordert eine Entscheidung nach der anderen. Ausgehen? Mit wem? In welches Restaurant? Welcher Sport? Was soll ich anziehen? Wohin fahren wir in Urlaub? Welcher Handytarif? Welchen Laufschuh?
Das Überangebot überfordert die kognitiven Kapazitäten unseres Gehirns. Wir Menschen sind prinzipiell unfähig, täglich so viele Entscheidungen zu treffen. Das bringt uns in einen Zustand der ständigen Übererregung. Und kostet viel Zeit. Hinzu kommt die Angst vor Fehlentscheidungen. Ist das gut genug oder gibt es noch etwas Besseres? Verpasse ich etwas? Wir haben alle Möglichkeiten, aber wir sind nicht mehr Herr der Lage, sondern werden durch äußere Impulse gesteuert. Die wesentliche Frage lautet: Was brauche ich wirklich? Dann können wir selbstbestimmt handeln.
Selbstoptimierung: Apps für alles
Zur Entlastung von der Anstrengung nutzen wir gerne Apps, die uns z.B. sagen, was wir essen und wie viele Schritte wir am Tag laufen sollten. Wer möchte, kann per App seine Vitalwerte im Tagesverlauf lückenlos im Blick behalten und mit denen anderer vergleichen. Diese Apps sind für einige Menschen unterstützend und werden mit Begeisterung genutzt. Andere Menschen wollen sie nicht, weil sie zu viel Zeit fressen oder sie die totale Überwachung fürchten. Oftmals führen sie uns in ein „kindliches“ Verhalten, weil sie uns kontrollieren und Entscheidungen abnehmen. Dadurch führen wir uns fremdbestimmt.
Selbstoptimierung ist grundsätzlich gut. Natürlich ist es motivierend, wenn wir unsere eigene Fitness und deren Steigerung messen können. Das erzeugt Glücksgefühle. Doch wie wichtig ist die Information einer App bezüglich unserer Flüssigkeitsaufnahme? Besser ist es doch, das Gefühl der Achtsamkeit für den eigenen Körper zu trainieren und auf das eigene Gefühl zu vertrauen.
„Nein“ sagen heißt „ja“ sagen zu sich selbst
Das Streben danach, gemocht zu werden, führt oft dazu, dass wir „ja“ sagen, obwohl wir „nein“ meinen. Wir helfen anderen, obwohl es uns eigentlich grade zu viel ist, Führungskräfte halten Kritik zurück, Lehrer geben zu gute Noten, Eltern halten Schwierigkeiten von ihren Kindern fern und Gäste sagen über ein schlechtes Essen, dass es ihnen geschmeckt hat. Viele Menschen können nicht „nein“ sagen. Weil sie gebraucht und gemocht werden wollen, vernachlässigen sie ihre eigenen Bedürfnisse. Hinzu kommt oft die Sorge, andere nicht enttäuschen zu wollen und das damit verbundene falsche Gefühl, die Verantwortung für die Gefühle anderer zu haben.
Auch Rollenkonflikte, die insbesondere viele berufstätige Eltern erleben, entstehen nur durch falsche Erwartungen und fehlende Grenzsetzungen, was möglich ist und was nicht. „Nein“ sagen fällt leichter, wenn wir das Ganze im Blick haben und nicht nur auf den kleinen Rahmen einer Situation schauen.
Anderen Vertrauen schenken
Viele Menschen sehen nur sich selbst. Und sie machen alles selbst. Wer anderen nichts zutraut und alles selbst machen will, gerät nur noch weiter in die Überforderung hinein. Anderen Menschen Vertrauen schenken und Aufgaben delegieren führt aus der Überforderung heraus und erzeugt Freiheit.
Herr seiner selbst sein
Ziel ist es zu lernen, die Vielzahl der eintreffenden Informationen und Möglichkeiten, die das Leben bietet, zu begrenzen. Nicht nur im Urlaub, sondern vor allem in den Alltag immer wieder kurze Auszeiten und Erholungspausen einzuschieben. Ein ausgiebiger Waldspaziergang oder eine kurze Pause mit Blick ins Grüne, eine Stunde Laufen, obwohl Arbeit wartet, oder auch das Abschalten des Smartphones für eine halbe Stunde. So entsteht Raum, Erlebtes wirken und sich setzen zu lassen. Das schafft Gelassenheit und Lebensqualität. Es tut einfach gut.
Wenn wir uns ausreichend Zeit zum Innehalten nehmen, wird uns meist klar, dass vieles, das uns gefühlt das Leben schwer macht, „Scheinprobleme“ sind. Wichtig ist zu erkennen: Wir selbst sind es, die uns überfordern. Jeder einzelne muss selbst besser für sich sorgen. Dringender als die eigene Gesunderhaltung kann nichts auf der Welt sein.