Anforderungen an uns
Moderne Mitarbeitende sind durchsetzungsstark und gleichzeitig einfühlsam, selbstgesteuert wie teamorientiert, tragen Konflikte souverän aus, wobei sie durch ihr mediatives Geschick diese natürlich weit zuvor bereits im Keim erstickt haben. Die Liste der Erfolgskriterien im Job, die viele Karriereratgeber vermitteln, ist so lang wie diffus. Leider bewirken sie oft nur, dass sich unsere Identität nicht weiterentwickelt.
Was ist eigentlich Identität?
Die Psychologie und Soziologie liefern zig verschiedene Definitionen des Begriffs „Identität“. Eine davon ist: Identität bezeichnet jene Merkmale, die eine Person von anderen Menschen unterscheidet. Identität bezeichnet somit das Bild eines Menschen, das er oder sie über die eigene Persönlichkeit besitzt. Man spricht auch von Selbstkonzept.
Die Entwicklung der Identität ist ein kontinuierlicher, lebenslanger Prozess. Vorstellen kann man sich diesen Prozess wie ein Seil, das aus zwei Strängen geflochten ist. Der eine Strang steht für das Erfahrungslernen. Wenn wir uns beispielsweise unter anderen Menschen wohlfühlen, lernen wir, dass wir ein geselliger Mensch sind. Der zweite Strang ist das Feedback von anderen, ein gleichwertig zentrales Element der Identitätsbildung. Im besten Fall werden die Rückmeldungen aus der Umwelt kritisch überprüft, mit den eigenen Erfahrungen abgeglichen und zu dem Selbstkonzept der Identität verflochten.
Feedback (ver-)formt uns
Soweit so gut, wäre da nicht die Feedbackflut, die sich heutzutage über uns ergießt. Führungskräfte bewerten ihre Mitarbeitenden, Mitarbeitende bewerten im 360-Grad-Feedback ihre Führungskräfte, Personalentwickler:innen „vermessen“ den Nachwuchs und kommentieren Stärken, Schwächen und Potenziale; und der Nachwuchs kommentiert sich gegenseitig und den Arbeitgeber. In Netzwerken wie LinkedIn und XING werden Referenzen ausgestellt, in Portalen wie Facebook und Instagram kommentieren andere.
Die Folge: Aufgrund der enormen Menge an Rückmeldungen aus unserem Umfeld findet die nötige Überprüfung und der Abgleich mit den eigenen Erfahrungen immer weniger statt. Während die Umwelt ein immer schärferes, aber nicht unbedingt stimmigeres Spiegelbild unseres Selbst wirft, entfernen wir uns von uns selbst und werden zum Spiegelbild des Spiegelbildes – zu unserem eigenen Zerrbild. Wir werden so, wie andere uns sagen, wie wir sind.
Rollenerwartungen beeinflussen unser Verhalten
Ein weiterer Knoten in der Identitätsentwicklung kann die Selbstidealisierung sein. Rollenerwartungen beeinflussen nicht nur das Verhalten, sondern auch das Selbstkonzept, konnten Psychologen mehrfach nachweisen. Da es zum Beispiel zur Rolle des Managers gehört, durchsetzungsstark und selbstgesteuert zu sein, neigen diese dazu, sich selbst auch so wahrzunehmen – selbst wenn diese Eigenschaften nicht oder nur sehr schwach in ihrer Persönlichkeit ausgeprägt sind.
Besonders fatal wird es, wenn die Überzeugung besteht, nahezu unbegrenzt belastbar zu sein. Das eigentlich Gefährliche ist dann nicht der körperliche Zusammenbruch, zu dem diese Einstellung führen kann, sondern die psychische Spannung, die entsteht, weil der Zusammenbruch das eigene Selbstbild zerstört: Obwohl ich in der Lage bin, hohe Belastungen auszuhalten, halte ich sie nicht aus. Diese Dissonanz kann schwere psychische Folgen nach sich ziehen.
So entwickeln wir unsere wahre Identität
Eine Vorgehensweise der eigenen kritischen Selbstreflexion ist die Selbstbeobachtung. Doch Selbstbeobachtung ist per Definition schwierig, da wir uns in der Regel nicht so verhalten, wie wir wirklich sind – nämlich unreflektiert und spontan – sondern verkrampfen und unnatürlich werden. Aus diesem Grund brauchen wir neutrale Beobachter, die wahrnehmen, wie wir uns verhalten, wie wir interagieren und auf andere reagieren und uns anschließend dazu eine Rückmeldung geben. Dies können Menschen im Unternehmen sein, die uns wohlgesonnen, aber ehrlich mit uns sind, oder externe objektive Berater:innen. Das Entscheidende dabei ist, dass wir das Feedback überprüfen und hinterfragen sowie mit unseren eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen abgleichen. Dadurch erweitern wir unsere Ich-Perspektive und entdecken so ein weiteres Puzzle-Teil unserer Identität.
Dieser Weg ermöglicht es uns, neue Verhaltens- und Kommunikationsweisen auszuprobieren und zu entwickeln, die individuell sind und zu uns persönlich passen.