Fortschritt braucht Neugier
Fortschritt lebt davon, dass der Mensch neugierig ist und danach strebt, Mehrwert zu schaffen. Die größten und wichtigsten Erfindungen entstanden und entstehen aus Neugier, weil sie uns dazu bringt, den Dingen tiefgehend auf den Grund zu gehen. Echte Neugier erfordert Offenheit für neue Wege und die Bescheidenheit und Demut, nicht zu glauben, dass die eigene, bestehende Meinung schon völlig ausgereift ist. Offenheit bedeutet die Fähigkeit, die eigenen Vorstellungen nicht als unverrückbar festzulegen, sondern sich differenziert und unvoreingenommen auch mit anderen Perspektiven auseinanderzusetzen.
Nun liegt die Vermutung nahe: Je jünger der Mensch, desto größer die Neugier und Offenheit. Doch so banal ist es nicht. Denken wir beispielsweise an die Generation der Baby Boomer. Ihnen werden häufig starre Strukturen und überholte Denkweisen nachgesagt. Sie sind in hierarchischen Systemen groß geworden und erleben das „Silodenken“ in Unternehmen oft als normal. Ihre Gesetzmäßigkeiten und Werte sind oft anders als die der jüngeren Generationen. Die spannende Frage ist nun: Sind die Offenheitswerte bei den jüngeren Generationen deutlich anders? Oder schätzen sie das Bewährte vielleicht genauso sehr?
Unsere kognitive Landkarte hat einen Anfang – und ein Ende
Neueste Studien zeigen da sehr interessante Ergebnisse. Wenn wir auf die Generation Z – gerne auch als Zoomer tituliert – schauen, so ist die Offenheit für neue Apps und Technologien durchaus gegeben. Wenn es aber um Neugier und Innovationsgeist geht, sieht das anders aus. Die Studie der vier aktuellen Arbeitnehmergenerationen zeigt, dass die Zoomer beim „Neugier-Gesamtwert“ den letzten Platz belegen. Wie kann das sein? Diese Generation von sehr gut ausgebildeten, international aufgestellten und aufgeschlossenen Menschen hat sehr klare Vorstellungen von einem „guten Leben“, sorgt sich um Klimawandel und Terrorismus und legt großen Wert auf einen moralischen Konsens. Alles nachvollziehbar. Allerdings wird durch ein sehr klares Bewusstsein dafür, was akzeptabel ist und was nicht, Offenheit ausgebremst. Hinzu kommt das ausgeprägte Bestreben, den medialen und sozialen Erwartungen zu entsprechen. Dies wiederum führt dazu, dass sie andere Denk- und Verhaltensweisen schneller als unzumutbar wahrnehmen, so die Studie. Die Generation der Zoomer tendiere dazu, die Dinge eher enger zu sehen – wohingegen für Innovation ein weiter Horizont unabdingbar ist.
Dazu ein Beispiel: Die Generation Z ist die klassische Generation der Car-Sharer. Sie wollen und brauchen kein eigenes Auto – im Gegensatz zu anderen Generationen, für die allein das Gefühl, ein eigenes Auto vor der Tür stehen zu haben, unverzichtbar ist. Wenn sie diesem Gefühl anderer von eigener Mobilität dann mit hohem Unverständnis und Intoleranz begegnen, entsteht kein echter Austausch, weil die eigenen Denkweisen immer wieder in die gleiche Enge führen. Diese Sichtweisen werden in Diskussionen oft als „wissenschaftlich erwiesen“ deklariert und der Wahrheitsgehalt der Gegenposition nicht mehr analysiert, so dass aus der Reibung keine kreative, intelligente, neue Idee entstehen kann, die auch die konträren Perspektiven berücksichtigt.
Diese Ergebnisse geben Anlass, die eigene Offenheit zu hinterfragen. Jeder Mensch konstruiert ein ganz individuelles Bild seiner Umwelt. Im Laufe des Lernens und der persönlichen Erfahrungen entstehen daraus Kategorien, eine Art kognitive Landkarte und feste Denkmuster, die Einfluss nehmen auf unser Denken und Handeln. Das führt dazu, dass wir Dinge außerhalb unserer eigenen Landkarte als fremd erleben.
Wie geht echte Offenheit?
Innovation erfordert ein echtes Interesse an diesem Fremden und Befremdlichen, weil wir Menschen sonst in unserem Horizont und unseren Denkmustern gefangen bleiben. Damit wird deutlich: Offenheit ist eine echte fortwährende Aufgabe und nicht einfach gegeben – die Auseinandersetzung mit dem Andersartigen, das Umdenken ist anstrengend! Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich die meisten Menschen selbst für besonders offen, aufgeschlossen und zukunftsorientiert halten. Diese Selbstüberschätzung kollidiert damit, dass wir alle Gewohnheitstiere sind und auf Kontinuität großen Wert legen. Im Grunde sind wir Menschen von Natur aus eher engstirnig, weil wir nach Wissen und Informationen suchen, die das, was wir kennen, bestätigen oder ergänzen. Wir suchen nach Bestätigung, dass unsere kognitive Landkarte so stimmt, wie sie ist. Diese spontane Sperre dem Neuen gegenüber kennen wir alle. Diesen ersten Impuls von „Wie soll das denn gehen?“ oder „Das kann doch nicht funktionieren!“, wenn etwas zu neu und zu anders ist, können wir nicht leugnen. Wir können diesen Impuls aber wahrnehmen, uns somit ertappen und damit den ersten Schritt in Richtung Offenheit tun.
Im Fazit heißt das: Offenheit ist eine Kompetenz, für die wir uns aktiv anstrengen und bemühen müssen. Wie können wir unsere eigene Offenheit trainieren? Ist das überhaupt machbar? Die Antwort lautet schlicht: Ja, wenn wir es wollen.
Hier einige Tipps für die konkrete Umsetzung:
Voraussetzung ist, dass wir unsere persönliche Landkarte kennen und die eigene Neugier nicht auf die eigene Landkarte, das bereits Bekannte beschränken, d.h. ….
- akzeptieren, dass es nicht die nur eine Landkarte, die eine Wahrheit gibt und sich mit der Perspektive und dem Wahrheitsgehalt der Gegenposition in der Tiefe auseinandersetzen.
- breitgefächert lesen und nicht im gewohnten Genre oder Medium bleiben.
- raus aus den gewohnten Informationen – egal ob Kultur, Lesen, Essen, Reisen und Menschen und uns auch mal dem „Befremdlichen“ stellen.
- uns gerne auch mal „eines Besseren“ belehren lassen.
Im Dialog bedeutet das, offene, ernstgemeinte Fragen zu stellen, andere Perspektiven einzuholen, zu hinterfragen und lebhaft zu diskutieren. Nicht mit dem Ziel seine eigene Meinung zu bestätigen, zu verteidigen oder durchzusetzen, sondern um diese anderen Sichtweisen „auszusetzen“ und damit weiterzuentwickeln.
Diese Anstrengung lohnt, denn Offenheit ist eine echte Zukunftskompetenz, die – wie wir aktuell erleben – besonders im beruflichen Kontext zunehmend zu einem Must-have wird. Und das gute Gefühl, sich selbst bei allem Bekannten noch positiv überraschen zu können, gibt es „gratis“ dazu.
Inspiriert aus dem Buch „Exzellenz“ von Doris Märtin, Campus Verlag, 2021.
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