Work-Life-Balance ist ein trügerisches Versprechen
Bücher und Zeitschriften warnen vor Stress, chronischer Überlastung und anderen Zumutungen der Arbeitswelt. Schluss mit der Maloche, heraus aus dem Hamsterrad, mehr Schutz vor dem Job, fordern Anhänger der Work-Life-Balance. Das wahre Leben, so wird uns suggeriert, findet außerhalb der Arbeit statt. Erst nach Feierabend können wir das tun, was wir wirklich tun wollen und so sein, wie wir wirklich sind.
Noch nie haben die Menschen so wenig gearbeitet wie heute. Und doch klagen viele darüber, dass sie vor lauter Arbeit nicht mehr zum Leben kommen. In vielfacher Hinsicht war Arbeit noch nie so gut. Man denke nur an die körperlich anstrengende, gesundheitsschädliche und monotone Plackerei früherer Tage. Und doch kommt es uns so vor, als wäre Arbeit heute anstrengender denn je und verlange nach angemessenem Ausgleich in der Freizeit, um eine Balance zwischen beiden herzustellen.
Doch Work-Life-Balance ist ein trügerisches, falsches Versprechen. Work-Life-Balance ist ein inhaltsleerer Begriff, der uns suggerieren soll, dass Arbeit und Leben zwei verschiedene, voneinander getrennte Welten seien – und dass das wahre, gute Leben erst nach Feierabend beginnt. In der einen Welt mühen wir uns sinnlos ab, in der anderen verwirklichen wir uns selbst.
Doch das ist Unsinn: Arbeit ist Teil unseres Lebens! Es ist ein Irrtum zu glauben, dass uns Freizeit glücklicher macht als Arbeit. Denn „freie“ Zeit ist kein Wert an sich. Wir machen sie zu einem Wert, indem wir sie sinnvoll nutzen. Statt unser Glück überwiegend in der Freizeit zu suchen, sollten wir auch unsere Arbeit so gestalten, dass sie zu einem guten, gelingenden Leben beiträgt. Arbeit ist existentiell. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr davon. Wir brauchen Arbeit, die unsere Fähigkeiten zur Geltung bringt – und die beiträgt zu einem guten, zufriedenen Leben.
Arbeit hat eine wesentliche Bedeutung für unser Leben
Sinnvolle Arbeit ist keineswegs nur eine Frage des Einkommens. Sie schafft Ergebnisse, sie bringt uns mit Menschen zusammen, sie gibt uns Struktur, vermittelt Identität, Anerkennung und Sinn. Sie lässt uns spüren, was wir können. Sie ist viel mehr als ein Mittel, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Wer Arbeit auf ihre instrumentelle Dimension reduziert, der verfehlt ihre tiefe Bedeutung für unser Leben. Arbeit selbst ist eine Lebensform. Wir sind, was wir tun. Gute Arbeit ist Arbeit, die im Einklang mit unserer Vorstellung von einem guten Leben steht. Arbeit, die zu einem passt, ist der beste Schutz vor Burnout.
Es gibt in unserer Gesellschaft eine Bruchlinie zwischen „guter“ und „schlechter“ Arbeit. Doch was ist damit gemeint? Es ist verständlich, dass Menschen „schlechte“ Arbeit als Zeitverschwendung erleben. „Gute“ Arbeit gibt Sinn. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen können wir zwischen verschiedenen Jobs wählen – und uns idealerweise von Jobs trennen, wenn wir merken, dass sie uns nicht gut tun. Was „gute“ Arbeit und was „schlechte“ Arbeit ist, muss jeder für sich persönlich definieren. Grundsätzlich ist es möglich, fast jede Arbeit als gut oder sinnstiftend zu erleben. Es ist eine Frage der inneren Haltung, eine Frage, aus welcher Perspektive und welcher Sinngebung wir unser tägliches Tun erleben.
Freiheiten in der Arbeit gestalten
Die Flexibilisierung der Arbeitswelt bietet die Chance, die Arbeit an Bedürfnisse und Lebenssituationen der Menschen anzupassen, statt umgekehrt. Eine Möglichkeit wäre, dass Unternehmen selbst beweglicher werden, indem sie ihren Mitarbeitern mehr Optionen bieten, etwa verschiedene Bündel von Arbeit, Einkommen und Freizeit, die unterschiedlichen Vorstellungen von einem guten Leben entsprechen.
Was wir brauchen, das ist nicht Befreiung von der Arbeit, sondern mehr Freiheit in der Arbeit. Viele Menschen erleben ihre Arbeit als gut, wenn sie Wahlmöglichkeiten haben, ihr Arbeitsleben zu gestalten und mit anderen Lebensbereichen zu vereinbaren. Dazu ist es entscheidend, dass jeder Einzelne für sich selbst die Verantwortung übernimmt und mit dem Unternehmen klärt, was für ihn wichtig ist.
Arbeiten und Leben im Hier und Jetzt
Wer ohne Not oder aus Bequemlichkeit in einem schlechten Job bleibt, wer seine Arbeit ausschließlich als Mittel zum Zweck betrachtet, der verschwendet vielleicht einen wesentlichen Teil seiner Lebenszeit. Wer während der Arbeit immer an deren Ende denkt, der lebt nicht mehr in der Gegenwart und im Moment, sondern verfällt dem Trugschluss, dass in der Zukunft – am Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub – das schöne Leben auf ihn wartet. Doch die Arbeit und das Leben sind im Hier und Jetzt und geben im Hier und Jetzt Erfüllung und Wohlbefinden.